Nachfolgende Rede wurde von Elder Erich W. Kopischke, Präsident
des Gebietes Europa der Kirche Jesu Christi der Heiligen der
Letzten Tage, am Freitag den 25.Mai 2012 in Madrid vor dem
6.Weltkongress für die Familie gehalten: Es ist mir eine besondere
Ehre, heute zu Ihnen sprechen zu dürfen. Diese Tagung und ihre
Ziele liegen mir sehr am Herzen. Mir ist bewusst, dass zumindest in
der sogenannten westlichen Gesellschaft die Zahl der traditionellen
Familien mit Vater, Mutter und Kindern rapide abnimmt. Meine Frau
Christiane und ich scheinen mit unseren mehr als dreiunddreißig
glücklichen Ehejahren, sieben Kindern und bislang fünf Enkeln zu
einer aussterbenden Gattung zu gehören – wir sind schon fast eine
Kuriosität in der heutigen Gesellschaft. Die Leute sehen uns und
fragen leicht verwundert: „Sieben Kinder, eine Ehefrau,
dreiunddreißig Jahre?“ Manche bemitleiden uns, manche meinen, wir
hätten Glück gehabt. Wir halten uns jedoch nicht für
bemitleidenswert und haben auch nicht bloß Glück gehabt – vielmehr
sind wir einfach glücklich! Wir führen das Leben, das wir uns immer
erträumt haben und das wir schon immer haben wollten. Es ist
erfüllend und lohnend. Elder Russell M. Nelson, der beim
Familienkongress 2009 in Amsterdam eine Ansprache hielt, sagte vor
kurzem:
„Wir wurden mit der Fähigkeit geboren, zu wachsen, zu lieben, zu
heiraten und Familien zu gründen. Die Ehe und die Familie sind von
Gott eingerichtet. Die Familie ist die wichtigste gesellschaftliche
Einheit … [Sie] erfüllt das tiefste Verlangen der menschlichen
Seele, nämlich die natürliche Sehnsucht danach, mit seinen
geliebten Angehörigen auf ewig zusammen zu sein.“ („Dank sei
Gott!“, Liahona, Mai 2012, Seite 77f.) Selbst wenn viele sich nach
dem traditionellen Familienleben sehnen, gibt es doch immer weniger
Menschen, die es haben. In der zweiten Hälfte des vorigen
Jahrhunderts ging die jährliche Zahl der Eheschließungen in
Deutschland um über 40% zurück. Zu viele junge Menschen heiraten
einfach nicht mehr. Viele haben sich irgendeinem Lebensstil
verschrieben, und oft steht dabei das Streben nach Spaß, Freiheit
oder Selbstverwirklichung im Vordergrund. Der Grundsatz des
„Shareholder Values“ aus dem Wirtschaftsleben ist bis zum einzelnen
Menschen und zur Familie vorgedrungen: geringer Einsatz, schneller
und hoher Gewinn. Das alles beherrschende Credo scheint zu lauten:
„Ich bin bereit, zu heiraten und sogar ein, zwei Kinder zu haben,
solange meine Karriere und mein persönlicher Lebensstil davon nicht
beeinträchtigt werden.“ Was dann genau dabei herauskommt, ist:
Familie und Kinder werden um die Karriere und um die persönlichen
Interessen herum geplant. Manchmal werden Kinder sogar zum Hobby.
Das Ziel dabei ist, das Leben für den einzelnen Erwachsenen
möglichst angenehm zu gestalten. Wer diesen Weg einschlägt, muss
jedoch einen hohen Preis dafür zahlen. Die Eigenschaften, die zu
einer glücklichen Ehe und Familie führen, wie etwa
Opferbereitschaft, liebevoller Umgang, Rücksichtnahme, Hingabe,
Hilfsbereitschaft, Geduld, Ausdauer und Treue, sind in solchen
Beziehungen kaum mehr zu finden. Persönliche Wünsche, Vorlieben und
günstige Gelegenheiten erhalten den Vorzug. Schnell führen kleine
Turbulenzen, die jeder einmal erlebt, zum Zerfall der Familie. In
der heutigen Welt, in der fast jeder glaubt, er sollte alles
bekommen können, was er will, werden die Menschen immer
selbstsüchtiger und unzufriedener. Kein Wunder, dass die
Scheidungsrate von 9,6% im Jahr 1955 auf 56% im Jahr 2003
angestiegen ist. In den letzten zehn Jahren lag die Scheidungsrate
in Deutschland stets über 50%. Damit steht Deutschland jedoch nicht
allein. Wir sind umringt von Nachbarn, die mit den gleichen
Problemen zu kämpfen haben. Der Niedergang der Familie spiegelt
sich nicht nur in der geringeren Zahl der Eheschließungen und der
gestiegenen Scheidungsrate wider, sondern auch in der weitaus
geringeren Geburtenrate. Und die Kinder, die noch zur Welt kommen,
werden meist außerehelich geboren und von alleinstehenden Eltern
großgezogen. Über 90% dieser Kinder leben bei ihrer Mutter. Ihnen
entgeht der Einfluss des Vaters in ihrem Leben. Der Verlust des
väterlichen Einflusses im Elternhaus hat weitreichende Auswirkungen
auf die Kinder. Der Journalist Claus Jacobi schrieb:
„Vermeintlich gesteigerte Lebensqualität von Erwachsenen wurde auf
Kosten der Winzlinge erworben. Jede Scheidung verwundet ihre
kleinen Seelen. Wie Schildkröten kennen viele ihre Väter nicht.
Andere sehen bei fremden Leuten aus dem Fenster oder wachsen in
zerbrochenen Sippen heran. Während Papa Karriere macht und Mama
sich selbst verwirklicht, werden sie, die noch ohne Arg sind,
Tagesmüttern ausgeliefert, in Heime gesteckt oder vor dem Fernseher
geparkt, der sie täglich neue Grausamkeiten lehrt.“ (Claus Jacobi,
„Wie Schildkröten kennen viele deutsche Kinder ihre Väter nicht“,
Welt am Sonntag, 5. November 2001.) All diese Entwicklungen haben
ernsthafte Folgen für die Gesellschaft. Überforderte Eltern, von
denen viele allein oder in einem Patchwork-Haushalt leben, sehen
sich orientierungslosen und aufsässigen Kindern gegenüber. Kinder,
die sich nach dem Gefühl der Zugehörigkeit sehnen, fühlen sich von
organisierten Banden angezogen, die ihrerseits ein
Sicherheitsrisiko darstellen. Immer mehr dieser Kinder leiden unter
Armut und mangelnden Ausbildungsmöglichkeiten. Viele von ihnen
haben den Eindruck, es gebe im Leben nichts Positives, worauf sie
sich freuen könnten. In sprunghaft angewachsenen Staatshaushalten
schlägt sich nieder, dass die Lösung sozialer Fragen und Ausgaben
für die innere Sicherheit die größten Kosten verursachen. Die
Sicherung des „sozialen Friedens“ ist politisches Programm
geworden. Jonathan Sacks, Oberrabbiner von Großbritannien, hat sich
über die Hintergründe der letzten Gewaltausbrüche in diesem Land im
Jahr 2011 Gedanken gemacht. Er schrieb:
„In buchstäblich jeder westlichen Gesellschaft gab es in den
Sechzigerjahren einen moralischen Umbruch; die ganze
althergebrachte Ethik der Selbstbeschränkung wurde aufgegeben. ,Du
brauchst nichts weiter als Liebe‘, sangen die Beatles. Der
jüdisch-christliche Moralkodex wurde über Bord geworfen. An seine
Stelle trat: Mach, was dir gefällt. Die Zehn Gebote wurden
umformuliert in Zehn kreative Vorschläge. Oder, wie Allan Bloom es
ausdrückte: ‚Ich bin der Herr, dein Gott: Entspanne dich!‘“
(Jonathan Sacks, „Reversing the Decay of London Undone“, The Wall
Street Journal, 20. August 2011.) Zwar ist es wichtig, die Probleme
zu verstehen, die durch die Auflösung der Familie entstehen, doch
die Auflistung der Probleme allein führt nie und nimmer zur Lösung.
Man muss die Gründe für den Wandel begreifen. Wenn wir erkennen und
verstehen, weshalb dies alles geschieht, steigen unsere Aussichten,
eine Lösung zu finden. Vor mehr als hundert Jahren bemerkte Henry
M. Field, ein amerikanischer Geistlicher:
„Die allgemeine Geringschätzung der Religion wirkt auf soziale
Einrichtungen wie Trockenfäule. Die Vorstellung, dass Gott der
Schöpfer und Vater der ganzen Menschheit ist, hat im Bereich der
Moral dieselbe Bedeutung wie die Schwerkraft im Bereich der
Naturwissenschaften. Sie hält alles zusammen, durch sie kreist
alles um eine gemeinsame Mitte. Ohne sie fällt die Menschheit
auseinander. Es gibt die Menschheit als Ganzes nicht mehr, sondern
nur noch einzelne Moleküle – Männer und Frauen, die im Universum
treiben und nicht mehr zusammenhalten und die nicht mehr Bedeutung
haben als die Unzahl der Sandkörner.“ (Henry M. Field, zitiert in A
Dictionary of Thoughts, Hg. Tryon Edwards, 1891, Seite 478.) Dieser
Gedanke hat, obwohl er aus dem 19. Jahrhundert stammt, noch immer
Gültigkeit. Wir müssen nicht nur das Vertrauen in den Wert der Ehe
und der Familie wieder aufbauen, sondern auch den Glauben an Gott.
Der Religion kommt eine wichtige Rolle zu, wenn es um Werte,
Verantwortungsbewusstsein und den richtigen Gebrauch der
Entscheidungsfreiheit geht, der Fähigkeit also, eine Wahl zu
treffen. Deshalb möchte ich heute für die Ehe und die Familie
plädieren, wobei der Glaube an einen Gott und Schöpfer mein
Ausgangs- und Mittelpunkt ist. Mein Glaube an Gott und mein
Vertrauen in ihn beeinflussen mein Verhalten. Ich handle anders,
weil ich an ein allerhöchstes Wesen und an ein Leben nach dem Tod
glaube. Dieser Glaube vertieft mein Verständnis der
Entscheidungsfreiheit und erweitert meine Perspektive, was das
Leben betrifft. Ich bin dankbar, dass Gott mir und meinen
Mitmenschen die Fähigkeit verliehen hat, Entscheidungen zu treffen,
bin mir jedoch bewusst, dass mit dieser Möglichkeit auch eine große
Verantwortung einhergeht. Ich weiß, dass mein Verhalten nicht
gleichgültig ist und dass ich vor Gott Rechenschaft darüber ablegen
muss, wie ich mein Leben geführt habe. Die Anhänger der
jüdisch-christlichen Tradition glauben an das Gotteswort: „Es ist
nicht gut, dass der Mensch allein bleibt. Ich will ihm eine Hilfe
machen, die ihm entspricht.“ „Darum verlässt der Mann Vater und
Mutter und bindet sich an seine Frau, und sie werden ein Fleisch.“
(Genesis 2:18,24.) In dieser Verfügung wird einer der Gründe für
die Ehe genannt: Gott ist sich bewusst, dass es einfach nicht gut
für den Menschen ist, allein zu bleiben. Eine der Hauptaufgaben im
Leben besteht darin, zu heiraten und Kinder in die Welt zu setzen.
In einer im September 1995 von der Kirche Jesu Christi der Heiligen
der Letzten Tage herausgegebenen Proklamation mit dem Titel „Die
Familie“ lesen wir: „Alle Menschen – Mann und Frau – sind als
Abbild Gottes erschaffen. … Das erste Gebot, das Gott Adam und Eva
gab, bezog sich darauf, dass sie als Ehemann und Ehefrau Eltern
werden konnten. … Mann und Frau tragen die feierliche
Verantwortung, einander und ihre Kinder zu lieben und zu umsorgen.
‚Kinder sind eine Gabe des Herrn.‘ (Psalm 127:3.) Eltern haben die
heilige Pflicht, ihre Kinder in Liebe und Rechtschaffenheit zu
erziehen, sich ihrer physischen und geistigen Bedürfnisse
anzunehmen und sie zu lehren, dass sie einander lieben und einander
dienen, die Gebote Gottes befolgen und gesetzestreue Bürger sein
sollen, wo immer sie leben. Mann und Frau – Mutter und Vater –
werden vor Gott darüber Rechenschaft ablegen müssen, wie sie diesen
Verpflichtungen nachgekommen sind.“ In der Proklamation heißt es
weiter:
„Kinder haben ein Recht darauf, im Bund der Ehe geboren zu werden
und in der Obhut eines Vaters und einer Mutter aufzuwachsen, die
die Ehegelübde in völliger Treue einhalten … Erfolgreiche Ehen und
Familien gründen und sichern ihren Bestand auf den Prinzipien
Glaube, Gebet, Umkehr, Vergebungsbereitschaft, gegenseitige
Achtung, Liebe, Mitgefühl, Arbeit und sinnvolle
Freizeitgestaltung.“ Wir müssen diese Prinzipien immer wieder
lehren. Seit Anbeginn der Welt war der Mensch noch nie dazu
bestimmt, allein zu bleiben, sondern in einer Familie zu leben.
Ohne gesunde Familien kann es keine gesunde Zivilisation geben. Der
amerikanische Historiker Will Durant sagte einmal: „Die Familie ist
der Kern der Zivilisation.“ (Will Durant: Brainy Quote.com, 12.
April 2012; http://www.brainyquote.com/quotes/quotes/w/willdurant154369.html.)
Eine Zivilisation oder eine Gesellschaft kann und wird immer nur so
stark sein wie die Familien, aus der sie besteht. Dieser Gedanke
ist wahrscheinlich bei Tagungen und Konferenzen wie dieser, die
überall auf der Welt für die Familie veranstaltet werden, schon
hunderte Male geäußert worden. Ich möchte dieser offensichtlichen
Tatsache aber noch eines hinzufügen: Eine Familie kann und wird nur
so stark sein wie die Ehe, aus der sie hervorgeht. Wir müssen den
Menschen deshalb klarmachen, warum sie heiraten sollen und wie man
eine glückliche Ehe führt. Wir müssen deutlich machen, dass diese
Investition jede Mühe wert ist. Wir müssen unablässig dafür
eintreten, dass mehr Leute heiraten und eine bessere Ehe führen.
Daraus werden dann im Laufe der Jahre starke und dauerhafte Ehen
entstehen. Eine Beziehung zwischen Mann und Frau, die auf
beiderseitigem Vertrauen und Liebe zu Gott gründet, wird zu einer
Grundlage, auf der ein Paar in seiner Liebe, Achtung und Sorge um
den anderen Fortschritt machen kann. Ich habe selbst erfahren, dass
ich die größte Zufriedenheit und den Sinn in meinem Leben meiner
Ehe verdanke und den liebevollen Beziehungen in der Familie, die
sich daraus entwickelt haben. Dieses Glück kann man für Geld nicht
kaufen und ganz gewiss auch nicht im Schnellverfahren erreichen.
Ich habe als Vater 32 Jahre gebraucht, um so etwas Wunderbares zu
erleben wie den Ausflug mit unserer zweijährigen Enkeltochter vor
ein paar Tagen. Wir sind zusammen spazieren gegangen – nur wir
beide – und hatten so viel Spaß, so viel zu entdecken, dass wir
eine Unmenge schöner Erinnerungen mit nach Hause nehmen konnten. Um
so ein Glück und solche Erfüllung zu erleben, musste ich mich
freilich jahrelang auf das Wohlbefinden und Wohlergehen anderer
konzentrieren und nicht nur auf mein eigenes Vergnügen und schnelle
Befriedigung. Ich habe mich bemüht, die Art Mensch zu sein, die
Gott – wie ich weiß – haben will. Ich schließe mit einem Zitat des
deutschen Dichters Johann Wolfgang von Goethe, der sagte:
„Die Ehe ist der Anfang und der Gipfel aller Kultur. Sie macht den
Rohen mild, und der Gebildetste hat keine bessere Gelegenheit,
seine Milde zu beweisen. Unauflöslich muss sie sein; denn sie
bringt so vieles Glück, dass alles einzelne Unglück dagegen gar
nicht zu rechnen ist. Und was will man von Unglück reden? Ungeduld
ist es, die den Menschen von Zeit zu Zeit anfällt, und dann beliebt
er sich unglücklich zu finden. Lasse man den Augenblick
vorübergehen, und man wird sich glücklich preisen, dass ein so
lange Bestandenes noch besteht!“ (Johann Wolfgang von Goethe, Die
Wahlverwandtschaften, Tübingen, in der I. G. Cottaischen
Buchhandlung, Seite I 9.)
Hinweis an Journalisten:Bitte verwenden Sie bei der Berichterstattung über die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage bei deren ersten Nennung den vollständigen Namen der Kirche. Weitere Informationen hierzu im Bereich Name der Kirche.